Über das Gestalten mit Kindern

 

----------------------------------------------------------------------------------------------------Graser 2014-----------------

Wenn man Kindern Papier und Stifte gibt, dann fangen sie spätestens mit zwei Jahren an das Papier zu bekritzeln. Auf und ab, hin und her, kreuz und quer, Linien, Punkte, Schraffuren, mal fest oder zart.

Was da geschieht, wird mit dem Wort Kritzelei (Kritzelei als etwas noch nicht Wertvolles) von den Erwachsenen nicht ernst genommen -und damit abgewertet. Dabei ist dies ein fundamentaler und komplexer Vorgang, der die Grundlage bildet für eine Eigenschaft des Menschen, Gefühle und Gedanken in eine zweidimensionale Fläche zu transformieren.

Dieser Vorgang, nicht Sichtbares in physikalisch Sichtbares zu formen, ist eine menschliche Eigenschaft in der Evolution, die andere Lebewesen in dieser Ausprägung nicht beherrschen.

Der vergleichbare Vorgang entsteht in der Sprache (Literatur), in der Gestik (Tanz), in der Nicht-Sprache (Musik), in Vorstellungen von der Welt (Philosophie, Märchen, Religionen).

Das Bildnerische Gestalten des Kindes führt zu im weiteren Verlauf des Menschseins zur  Malerei, zu Bildzeichen (Verkehrsschildern), zur Werbung und zu dem Nacheinander von Bildern (Film).

Wissenschaftler erklären nach dem heutigen Stand ihrer Erkenntnisse, dass es keine festen, stabilen Formen gibt, dass wir die angeblich festen Formen nur durch unsere eingeschränkte Wahrnehmung  mittels der Sinnesorgane so erleben.  Für das Überleben im sozialen Kontext reicht dies vollständig aus.

Da der Erwachsene das Beste für seine Nachfahren  will, vermittelt er seine Erkenntnisse an die Kinder weiter, in der Annahme, sie gut für das Leben vorzubereiten. Dazu gehört auch meistens das Denken und Weitergeben in festen Formen. Dabei spielt es keine Rolle, dass dies wahrscheinlich ein Trugschluss ist.

Denn das Kleinkind zeichnet etwas auf, das viel näher an der Realität ist als der formorientierte Erwachsene. Das Kind beschreibt in seinen Kritzeleien Prozesse, das Gegenteil von stabilen Formen.

Prozesse sind (nach dem heutigen Kenntnisstand) universale Ereignisse, die nicht nur die Erde sondern das ganze Weltall  bestimmen. Wenn diese Sachlage der Weltrealität entsprechen würde, dann wären die Kritzeleien der Kinder näher an der Realität als das Formdenken der Erwachsenen.

Die Praxis. Ein Kind kritzelt etwas auf das Papier. Der Erwachsene fragt, was soll das sein? Soll das ein Tier, ein Hund oder eine Katze sein? Ein Haus etwa? Komm, ich zeige dir, wie das richtig aussieht.

Was in diesem gutgemeinten Ansatz auf die zukünftige Lebensbewältigung  des Kindes passiert, hat grundlegende Folgen.

Das Kind, das den Schritt vollzieht, Unsichtbares in Sichtbares zu transformieren, wird  vom Erwachsenen in die feste Formsprache der scheinbaren physikalischen Welt gepresst.

Es folgt dem Erwachsenen - aus Zuneigung oder aus Gehorsam - in die Formwelt und unterbricht den Kontakt zu der inneren, nicht physikalischen Welt, in der Prozesse ablaufen.

Der zeichnerisch ungeübte Erwachsene kann die Formwelt nicht fotografisch exakt wiedergeben. Zudem hat er auch den Kontakt zu seiner prozeßhaften Innenwelt verloren. Darum sagt er über sich aus, dass er nicht malen kann.  Die Erwachsenen schämen sich, wenn sie aufgefordert werden, etwas von ihrer Persönlichkeit gestalterisch preiszugeben.

Hier wird die Grundlage gebildet, um die Abhängigkeit von Autoritäten (in unserem Falle ist die feste Form die Autorität)  zu akzeptieren und für positiv zu erleben.

Darum sind Malkurse so gefragt, weil der "normale" Teilnehmer die Hoffnung in sich trägt, über Techniken und Kunstgriffe seine verlorene Identität durch den Kursleiter wieder zu erlangen.

Der Höhepunkt dieses Irrwegs ist das Malen nach Zahlen, in der die Form schon vorgegeben und die Farbe nach Farbtafeln mit Nummern eingetragen werden.

Da das Reproduzieren von festen Formen in unserer Gesellschaft als etwas Positives akzeptiert wird, versucht der Erwachsene diese Akzeptanz an seine Nachfahren weiterzugeben. Dabei hat er ein gutes Gefühl, denn er kann seinen Kindern helfen, einen sicheren, stabilen Weg in die Lebenszukunft zu ermöglichen.

Dieses Helfenwollen ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Es gibt im Leben Gebiete, in denen das Vormachen und Nachmachen sinnvoll, sogar lebensrettend sein kann. Es gibt aber auch Gebiete, die den angeblich "Hilflosen" in schwierige Situationen führt.

Wird einem Kind vorgemacht, dass Stabilität und Sicherheit als ein vorrangiges Lebensziel anzustreben sei, so wird es als Erwachsener von der Realität in die Realität gestoßen.

Das Leben geschieht in nicht berechenbaren Prozessen und wenn ich schon als Kind diese Prozesse nicht üben kann, sondern in illusionären Gebilden aufwachsen muss, so ist der weitere Lebensweg schon kanalisiert.

Warum gibt es die vielen Versicherungen, wenn doch alles vorhersehbar und berechenbar ist?  Warum gibt es die vielen Feste, die den Menschen aus dem tristen Alltag herausreißen wollen und vergnügliche Stunden mit so genannten "Gleichgesinnten" versprechen? Warum spielt bei der Berufswahl die Höhe der erhofften Rente ein nicht geringe Rolle? Warum spielen Rauschmittel und Unterhaltung eine so große Rolle, wenn doch alles stabil und sicher ist?

Werden einem Kind in der Zeit, da es noch lebendig und formbar erscheint, Schablonen oder Kinderbücher zum Ausmalen angeboten, dann greift es, bei einem entsprechenden Elternhaus oder anderen Einrichtungen, nach diesen gestalterischen Gelegenheiten.

Dabei hat dies mit dem Gestalten nichts zu tun, sondern es ist ein Training in die Formwelt der Erwachsenen. Das eigene Erleben und Begreifen der Umwelt und die gestalterische Umsetzung in Material wird systematisch abgewürgt, um die Lebendigkeit in eine formbare Masse zu überführen, die den Stärkeren keinen Widerstand mehr entgegensetzen kann.